Popgesangstraining vs. Klassik-Stimme?

Popgesangstraining macht die «Klassik-Stimme» kaputt? Klassisch geschulte Sänger können niemals poppige Klangqualitäten erreichen? Alles Vorurteile, denn in Wirklichkeit befruchten sich beide Techniken gegenseitig

Die Basis muss stimmen
Die Stimme ist ein äußerst flexibles Organ und in der Lage, zahlreiche Klangfarben zu produzieren. Allein in der westlichen Kultur finden wir eine enorme Vielfalt an Gesangsqualitäten – und keine ist im Vergleich mit anderen gut oder schlecht für die Stimme.
Im Pop-Gesang ist fast alles erlaubt, er lebt von Authentizität, Rhythmus und Emotion. Im Musical dient die Stimme dem Text, der Rolle und dem Stil. Das Stimmtimbre wird als dramaturgisches Aus-drucksmittel eingesetzt. Das Textverständnis hat höchste Priorität und das schauspielerische Element gewinnt an Wichtigkeit gegenüber der Schönheit der Stimme. Klassischer Gesang verlangt das Ultimative an technischem Können. Wer eine belastbare, leistungsfähige Stimme entwickeln will, kommt bis auf ganz wenige Fälle an einer formellen Stimmbildung nicht vorbei.
Ist Pop-und Musicalrepertoire nun stimmschädigend? Wie bei jeder Art von Gesang braucht es Zeit, um eine fundierte Technik aufzubauen. Baut die Stimme vorzeitig ab, ist dies das Resultat einer fehlerhaften Technik und nicht des Repertoires. Denn alle intensiven Gesangsarten sind gefährlich. Man kann eine Stimme genauso schnell mit klassischem Repertoire ruinieren wie mit Popsongs. Ist die Stimme überfordert, entwickelt sie stimmschädigende Überlebensmechanismen.
Nach über 30 Jahren Unterrichtserfahrung mit Musical, Jazz, Pop und klassischen SängerInnen stelle ich zunehmend fest, dass es in der Technik mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede gibt. Immer mehr klassische PädagogInnen öffnen sich dem Popular- und Musicalgesang, es gibt einen neuen Bedarf hierfür. Ein Verlust an künstlerischem Anspruch ist das nicht: Die unterschiedlichen Techniken können sich sogar gegenseitig befruchten, denn die Gemeinsam-keiten überwiegen. Es ist ein Fehler, Pop- und Mu-sicalgesang als eine komplett eigenständige Technik zu behandeln.
Trendige «Do-it-yourself»-Gesangsmethoden für Pop-Sänger konzentrieren sich eher auf die Besonderheiten, versprechen schnelle Ergebnisse und bieten monokausale Lösungen für komplexe Prob-leme an. Das heutige Pop- und Musical-Repertoire verlangt eine Stimme, die belastbar, kraftvoll, diffe-renziert, tragfähig und flexibel ist: Die männliche Stimme wird häufig extrem in die Höhe gezogen, von weiblichen Stimmen wird viel Kraft in der mittle-ren Oktave verlangt, das bringt die Stimme an ihre Grenzen. Diesen Anforderungen gilt es mit gesunden Mitteln zu begegnen.


Death Metal und Klassik – beides geht
Die alten Meister des Belcanto, das Anfang des 17. Jahrhunderts zusammen mit der Oper in Italien entstand, haben uns eine Technik überliefert, mit der die Stimme den Strapazen des populären wie des klassischen Repertoires standhalten kann: Man baut aus dem Kehlkopf ein Instrument, auf dem man spielen kann. Mit diesem Fundament kann man entscheiden, in welchem Genre man singen will. Ich habe mit einer klassisch ausgebildeten Sängerin gearbeitet, die ohne irgendwelche Stimmprobleme nebenbei in ei-ner Death Metal-Band gesungen hat – ein extremes Beispiel und vielleicht eine Ausnahme, aber es zeigt, dass so etwas möglich ist, wenn die Basis stimmt. Meine eigene Lehrerin, Eileen Farrell, bekannt für ihre Interpretation von Verdi und Wagner, war auch eine erfolgreiche Jazzsängerin.
Bestimmte Basics benötigt jede Stimme, um optimal zu funktionieren, unabhängig vom Genre.

Voraussetzung ist eine gute Körperhaltung, denn der Kehlkopf ist nicht isoliert. Die Stimme reagiert auf die kleinste Veränderung des körperlichen Gleich-gewichts und das schließt auch das Nervensystem und die psychische Verfassung ein. Der wichtigste Baustein in der Stimmbildung ist die Registerarbeit. Wenn die Falsett- und Bruststimmfunktionen gut entwickelt und koordiniert sind, lösen sich viele andere Probleme von allein.
Genrespezifische Klangfarben
Die Unterschiede liegen in den genrespezifischen Klangfarben: Pop- und Musicalgesang ist sprach-näher als klassischer Gesang, der Kehlkopf sitzt eher in der neutralen Sprechposition und der Gesang tendiert auch dazu, brust-dominanter zu sein. Im klassischen Gesang trainieren wir den weichen, elastischen Ansatz, auch simultaner Ansatz ge-nannt. Im Pop haben wir zusätzlich zum Beispiel den verhauchten Ansatz, den glottalen Ansatz oder den Ansatz mit dem Geräusch der Verzerrung. Alles ist legitim. Eine tiefe Kehlkopfstellung wie im klassischen Gesang verleiht der Stimme für Stile wie Blues, Gospel und Soul eine dunkle Klangfarbe. Ein unentbehrliches Stilmittel ist Twang, das mit hoher Zunge und hohem Kehlkopf eine hellere, tragfähige Klangqualität ergibt und auch der klassischen Stimme Glanz und Tragfähigkeit verleiht. Die Regis-terbehandlung im Musical und Pop ist vielfältiger als im klassischen Gesang. Abrupte Registersprün-ge – keine Brüche! – sind oft erwünscht und keine Seltenheit. In der Klassik wird das häufig als Stimm-fehler bezeichnet und ist gewöhnungsbedürftig.

Musical- und Pop-, aber auch Gospel- und Country-sängerInnen können zudem von der Belt-Stimme Gebrauch machen, der extremsten Gesangsqualität, die wir in der westlichen Welt kennen. Sie stammt ursprünglich von einer Naturfunktion ab, dem Schreien, und ist kompromisslos, extrem ehrlich und nicht unumstritten: Belting leidet unter dem schlechten Ruf, stimmschädigend zu sein, denn das Missverständnis, dass Belting die hochgezogene Bruststimme bedeutet, ist weit verbreitet. Belting benutzt zwar einen hohen Anteil an Vollschwin-gung wie in der Bruststimme, hat aber eine leicht abgeänderte Kehlkopfstellung, um die Spannung in der höheren Tonlage zu erleichtern. Wenn alle vorher genannten technischen Voraussetzungen trainiert wurden, ist es ungefährlich.
Die wichtigste Frage, die sich jede Sängerin und jeder Sänger stellen sollte, ist «Bietet mir meine Stimme die Mittel an, die ich benötige, um mühelos umzusetzen, was die Musik von mir verlangt?» Das Ziel, die Stimme als Ausdrucksmittel einzusetzen, haben letztlich alle gemeinsam.

Noelle Turner ist seit 1992 Professorin für Gesang an der Folkwang Universität der Künste in Essen im Studiengang Musical. Sie studierte klassischen Gesang in den USA und begleitet die Entwicklung des Musicals im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1980er Jahre. Sie unterrichtete am Musical-Studio-München, an der Stage School of Music and Drama in Hamburg und betreute als Vocal-Coach zahlreiche Produk-tionen wie «Cats» (Hamburg), «Starlight Express» (Bochum) oder «Joseph» (Essen). Vorträge, Workshops, Seminare und Wettbewerbsjurorentätigkeit im In- und Ausland gehören zu ihrem Aufgabenbereich.

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